Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 09


Trotzdem begann Tiscio den nächsten Tag mit neuem Tatendrang. Er erschien überpünktlich in der Wache, erledigte seine zugewiesenen Aufgaben, erstattete noch ein weiteres Mal Bericht und ging gemäß seinem Sonderauftrag zur Konditorgasse 23a.
Malandro war weniger gut gelaunt, denn er musste gerade die Nachttöpfe leeren. Dies waren die Augenblicke, in denen er sich jedes Mal aufs Neue wünschte sein Lehrmeister hätte doch eine neue Haushälterin eingestellt. Aber wahrscheinlich war er als zusätzlicher Esser zu teuer, um auch noch eine zweite Angestellte im Haus zu haben.
"Hui, da bin ich wohl zum falschen Augenblick gekommen." Tis lachte.
"Ja, lach du nur. Wenigstens werde ich nicht vor aller Augen runtergeputzt."
Tiscio schlug seinem Freund gegen den Oberarm, was schmerzhafter aussah als es tatsächlich war.
"Ich hatte heute Nacht noch eine Idee. Erinnerst du dich an das Schreiben, mit dem Vilet angezeigt wurde?" Malandro musste einen Augenblick überlegen, als es ihm jedoch wieder einfiel, grinste er. Vor zwei Jahren war Tiscios Gastmutter, die damalige Frühlingskönigin, der Hexerei bezichtigt worden. Das Schreiben war von einem Mitglied der Neustädter Ritter, einer der größten Banden Xpochs, bei der Metrowacht eingereicht worden. Apfelhelm Unterschnitt hatte mit Hilfe dieses Zettels und seiner Magie den Mann ausfindig machen können. Es war nicht schwer zu erraten, dass Tiscio daran dachte, einen der Briefe, die Professor Ulfhaus erhalten hatte, zu "besorgen", um damit das Ritual ein weiteres Mal auszuführen.
"Große Idee. Warum bin ich nicht darauf gekommen? Viel wichtiger: warum ist Apfelhelm nicht darauf gekommen?"
"Wahrscheinlich ist er das, hat es nur nicht erwähnt."
"Wahrscheinlich."
"Meinst du, du kannst 'nen Brief besorgen?"
"Denke schon. Diesmal bin ich ja auf die Vermieterin vorbereitet. Ich nehme an, du willst nicht dabei sein, so angehübscht, wie du gerade bist?"
"Ich werd' seh'n, dass ich Gunnar an der Universität finde. Er wirkte gestern ziemlich niedergeschlagen", vermied Tiscio eine direkte Antwort. Es war immer noch so, dass er sich kaum selbst erkannte, wenn er seine Uniform trug und an einem Spiegel vorbeikam.

Bis es ihm jedoch gelang, Gunnar zu finden, hatte jener bereits selbst einiges erledigt. Er war in der Bibliothek gewesen, um dem Bibliothekar mitzuteilen, dass die ausgeliehenen Bücher tatsächlich bei dem Professor zuhause warn. Außerdem hatte er von der Sekretärin des Dekans die angeforderte Liste erhalten. 27 Studenten waren für die Vorlesungen des Ermordeten eingetragen, von denen Gunnar jedoch nur zwei kannte. Mit einem von ihnen spielte er gelegentlich Marquin. Der andere war ein Querstudent, was so viel bedeutete, dass er nicht nur für die Naturphilosophie sondern auch für das philosophische Kurrikulum eingeschrieben war: Pestadt Alta. Sie waren nicht gerade Freunde, waren aber auch noch nie aneinandergeraten, was für einen so jungen Studenten wie Gunnar nicht selbstverständlich war. Er hatte das erste Jahr sehr unter seinen älteren Kommilitonen gelitten. Und sie waren alle älter als er gewesen.
Man konnte behaupten, es bestand eine gewisse Konkurrenz zwischen ihnen, denn Pestadt war ebenso wie Gunnar beständig darum bemüht, jeden Professor zu beeindrucken. Er hatte ein gesundes Verständnis von allem, für das Gunnar sich interessierte, sowie zwei Jahre Vorsprung in seiner Ausbildung. Trotzdem waren sie sich vermutlich ebenbürtig, wenn auch Gunnar im Praktischen geübter war. Dennoch war Gunnar nicht traurig, als Tiscio ihn fand und er nicht alleine mit dem älteren Studenten sprechen musste.
"Natürlich habe ich von seinem Tod gehört. Es wird ja kaum noch von etwas anderem gesprochen. Außerdem müsste ich schon sehr begrenzt im Verstand sein, wenn mir nichts aufgefallen wäre, wo doch alle seine Vorlesungen abgesagt oder auf jemand anderen gebucht sind."
"Das wollten wir auf keinen Fall damit sagen, Herr Alta."
"Eigentlich wollen wir dir nur ein paar Fragen stellen, Pestadt."
"Lasst mich raten: Bin ich der Mörder gewesen? Und die Antwort ist natürlich ‚nein‘."
"Eigentlich wollten wir eher wissen, um was es in den letzten Vorlesungen ging."
"Das steht doch alles in den Vorlesungsplänen."
"Ich weiß, aber hat er irgendetwas anderes als die Frühgeschichte der Stadt dieses Semester gelehrt?"
"Nur nach Plan."
"Nicht mal irgendetwas erwähnt? Irgendetwas Besonderes, wie die Gründung des Königshauses oder etwas, das damit zusammenhängt?"
"Wir sind nur bis zur Vertreibung der Tolaesom gekommen. Warum hätte er etwas über das Königshaus erzählen sollen?"
"Das wissen wir nicht. Deswegen wäre es interessant gewesen."
"Hast du vielleicht eine Idee, warum man ihn umgebracht haben könnte?"
"Ein Student, der eine schlechte Note bekommen hat? Was weiß ich? Ich kannte den Mann ja nicht, außer aus den Vorlesungen."
Damit ließen sie es auf sich bewenden. Pestadt war wenig gewillt, ihnen zu helfen, so viel machten seine Antworten deutlich. Und für ein richtiges Verhör fehlten ihnen die Autorität und auch der begründete Verdacht. Es gab genügend andere Studenten, die vielleicht bereitwilliger mit ihnen oder Herrn Unterschnitt zusammenarbeiten würden.
Da ihnen in diesem Moment nichts Besseres einfiel, gingen sie erneut zum Büro des Ermordeten, um vielleicht die Bücher ein letztes Mal zu untersuchen und dabei Liweg noch ein paar Informationen aus der Nase zu ziehen. Sie fanden die Tür jedoch erneut verschlossen vor, weswegen sie sich auf den Weg zur Sekretärin des Dekans machten.
"Wir benötigen die Adresse des Assistenten", stieß Tiscio gleich nach der Begrüßung hervor.
"Was hat er denn Angestellt, Herr Wachtmeister?" Tis überlegte kurz, ob er sie verbessern sollte, entschied sich aber dagegen. So lange er sich selbst nicht als voller Wachtmeister ausgab, hatte er streng genommen nichts verkehrt gemacht.
"Nichts, wir wollen nur mit ihm sprechen."
"Das ist aber unglücklich. Normalerweise wäre er ja da, aber seine Mutter ist vor ein paar Tagen vorstellig geworden, um ihn Krank zu melden. Es geht ihm wohl sehr schlecht, dem Armen."
"Vor ein paar Tagen? Krank? Wir haben ihn aber doch gestern erst im Büro gesprochen. So krank sah er gar nicht aus."
"Er war im Büro? Warum hat er sich dann nicht bei mir gemeldet?"
"Das kann ich ihnen nicht sagen. Vielleicht war er mit dem Mord zu sehr beschäftigt."
"Er ist wegen des Mordes zur Arbeit gekommen? Der Gute. Das hätte ich ihm nicht zugetraut. Trotzdem hätte er vorbeischauen können. Aber vielleicht hatte er Angst, dass er uns anstecken könnte. Wo er doch die Röteln hat."
Gunnar war der Unterhaltung zuerst mit purem Erstaunen gefolgt, dann nur noch mit einem breiten Grinsen.
"Frau Linger, es tut mir Leid, aber ich glaube, Wachtmeisteranwärter Canil hat sich undeutlich ausgedrückt. Wir müssen nicht mit Herrn Ausderwie sprechen, sondern mit Herrn Liweg, dem Assistenten von Professor Ulfhaus."
Die Sekretärin blickte Gunnar für einen Augenblick genau so verwundert an wie Tiscio, fasste sich dann aber schnell wieder, indem sie über die vorangegangene Unterhaltung hinwegging: "Für eine solche Auskunft müssen sie zu den Damen der Verwaltung gehen."
"Das wissen wir, Frau Linger. Allerdings werden diese uns keine Adresse aushändigen, wenn wir kein Schreiben von ihnen oder dem Dekan vorlegen."
"Ah, natürlich." Mit einer schwungvollen Bewegung zog sie ein Blatt Papier aus einer Schublade und kritzelte mit schnellen Strichen einen kurzen Text darauf, bevor sie das Dokument mit einem lauten Stempelschlag offiziell machte.
Als die beiden jungen Männer das Vorzimmer verließen, blickte sie ihnen kopfschüttelnd nach und grummelte etwas, dass Tis und Gunnar jedoch nicht mehr verstehen konnten.

Am Ende zeitigten ihre Bemühungen jedoch keinen Erfolg. Zwar erhielten sie die Adresse und fanden auch die Unterkunft, Liweg war jedoch nicht zuhause, was immer das in einem Verbindungshaus bedeuten mochte. Weder Tiscio noch Gunnar mochten die Verbindler oder Burschenschaftler. Beide hatten jedoch sehr unterschiedliche Gründe für ihre Ablehnung. Für die Feldstraßler waren die Wege um die Universität immer zum Spießrutenlaufen geworden, weil die Studenten, wenn sie als Gruppe auftraten, einen sehr unangenehmen Sinn für Humor und einen noch viel unangenehmeren Bedarf an Zerstreuung besaßen. Und die größten und geschlossensten Gruppen bildeten immer die Männer aus den Verbindungen. Gunnar mochte sie einfach nicht, weil sie ihm mit ihrem lauten Gemeinschaftssinn auf die Nerven gingen. Für ihn passte sich seine Abneigung gegenüber Liweg perfekt in seine Ablehnung der Verbindler ein.
Beiden war jedoch wiederum gemein, dass sie von allen diesen Gemeinschaften die schlagenden am wenigsten ausstehen konnte. Die Warmsynia war glücklicherweise keine solche. Trotzdem musste Gunnar einmal kräftig schlucken, bevor sie an der Türschelle zogen. Es half, einen Berti dabei zu haben, selbst wenn es sich bei diesem um einen Anwärter handelte der zudem auch noch Tiscio war.
Der hochnäsige Lümmel, der ihnen öffnete, änderte dann auch schnell seine Haltung, als er die Uniform sah. Er verhielt sich nicht übermäßig höflich, schließlich hätte ihn ja einer seiner Kommilitonen hören können, aber er war doch umgänglicher. Allerdings konnten sie ihm am Ende auch nur entlocken, dass Liweg nicht auf seinem Zimmer war und dass er sich vielleicht im Fredel aufhielt.
Der Fredel, der eigentlich Fredels Ausschank hieß und die Stammkneipe der Warmsynias war, stellte sich jedoch als Nebelkerze heraus, denn, wie der junge Mann sicher gewusst hatte, war sie um diese Uhrzeit noch geschlossen.
"Und was jetzt? Zurück zur Universität?"
"Wollte Malandro auch noch kommen?"
"Wir treffen uns zum Mittagsgong am Haupteingang."
"Dann mach du mit ihm weiter. Mir geht es nicht gut."
"Was hast du?"
"Ach, ich weiß auch nicht."
"Willst du nach Hause? Soll ich dich noch Begleiten."
"Ne, so weit ist es ja auch nicht. Aber ich kann einfach nicht mehr."
Damit nickten sie sich zu und Gunnar machte sich auf den Weg in die Zirklergasse. Tiscio schaute ihm noch eine Weile nach und hoffte, dass es etwas körperliches war.

Die Jungen aus der Feldstrasse